Die Geschichte vom armen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer 15.04.19

In einer abgeschiedenen ländlichen Gegend Südeuropas sitzt ein Fischer am flachen Meeresstrand und angelt mit einer alten, herkömm- lichen Angelrute. Ein reicher Unternehmer, der sich einen einsamen Urlaub am Meer gönnt, kommt auf einem Spaziergang vorbei, beob- achtet den Fischer eine Weile, schüttelt den Kopf und spricht ihn an. Warum er hier angle, fragt er ihn. Draußen, auf den felsigen Klippen könne er seine Ausbeute doch gewiss verdoppeln. Der Fischer blickt ihn verwundert an. »Wozu?«, fragt er verständnislos. Na, die zusätzlichen Fische könne er doch am Markt in der nächsten Stadt verkaufen und sich von den Einnahmen eine neue Fiberglasangel und den hoch effek- tiven Spezialköder leisten. Damit ließe sich seine Tagesmenge an gefan- genem Fisch mühelos noch einmal verdoppeln. »Und dann?«, fragt der Fischer, weiterhin verständnislos. Dann, entgegnet der ungeduldig wer- dende Unternehmer, könne er sich bald ein Boot kaufen, hinausfahren ins tiefe Wasser und das Zehnfache an Fischen fangen, sodass er in kur- zer Zeit reich genug sein werde, sich einen modernen Hochseetrawler zu leisten! Der Unternehmer strahlt, begeistert von seiner Vision. »Ja«, sagt der Fischer, »und was tue ich dann?« Dann, schwärmt der Unterneh- mer, werde er bald den Fischfang an der ganzen Küste beherrschen, dann könne er eine ganze Fischfangflotte für sich arbeiten lassen. »Aha«, entgegnet der Fischer, »und was tue ich, wenn sie für mich arbeiten?«Na,dannkönneersichdenganzenTaglangandenflachen Strand setzen, die Sonne genießen und angeln. »Ja«, sagt der Fischer, »das tue ich jetzt auch schon.«

 
Rosa, Hartmut, Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, S.12
© Suhrkamp Verlag
Titelbild von: Julian Busch